tl,dr: Gute, umfangreiche Materialsammlung mit einer gleichmäßigen Lernkurve - einzelne Aspekte des Klavierspiels könnten umfangreicher besprochen werden.
Ich arbeite als Klavierlehrer und erlebe immer wieder, dass die Kinder sich gerne im Internet Noten von ihren Lieblings-Pop/Rock-Songs beschaffen und diese dann gerne spielen möchten. Diese Noten sind meiner Erfahrung nach zu 90% lieblos arrangiert, auf weiten Teilen sehr leicht und dann an einzelnen Stellen unspielbar schwer und dilettantisch aufgeschrieben in Hinsicht auf Spielbarkeit, Fingersätze und Klang.
Um für die "Pop"-interessierten Schüler also ordentliche Noten zu haben, habe ich das "Rock Piano" besorgt.
Ich habe in meiner Kindheit auch nach diesem Lehrbuch gelernt. Voraussetzung für das Rock Piano ist, dass man bereits eine gewisse Flexibilität in den Lagen (der Hände) und Grundkenntnisse im Rhythmus (mindestens Achtelnoten und -pausen) mitbringt. Nach etwa 1,5-3 Jahren Unterricht, je nach Begabung und Hingabe des Schülers, ist dieser Stand etwa erreicht.
Ich bin von dem Buch sehr überzeugt:
- Es werden viele Aspekte (anfangs Tonarten, Notenwerte, Akkordlehre, Mehrstimmigkeit und später dann expressives Spiel, Improvisationsansätze, "Groove", Rock-verwandte Stilistiken, u.v.m.) sehr logisch und methodisch aufgebaut in dem Buch besprochen.
- Nach vielen abstrahierenden Übungen werden mehrere Themen in einem die Lektion abschließenden Spielstück zusammengefasst. Diese Stücke klingen zwar nicht nach bekannten Pop-Songs, und haben an ihrer "Hipness" über die Zeit seit des Erscheinens des Werkes etwas eingebüßt, sind aber einigermaßen spaßig zu spielen und schaffen anregende Herausforderungen.
- Die Spielstücke sind auf der CD mit instrumentaler Begleitung zu hören.
- Im kurzen Anhang sind u. a. Rhythmus-Patterns aufgeführt. Sie sind nicht schlecht für Klatsch- oder Sprechübungen, oder als Grundlage für Motive in der Improvisation.
- Der Autor verweist auf hörenswerte Aufnahmen und gibt gute Anregungen zur weiterführenden, selbstständigen Arbeit.
- Ferner ist das Buch weder auffällig und "kinderfreundlich" gestaltet noch trocken und schulbuchhaft gehalten. Gelegentliche Anmerkungen des Autors (z.B. "richtig hämmern!") lesen sich ganz nett und sorgen mit dafür, dass das Buch auch Spaß macht.
Nun habe ich an dem Buch auch einige Kritikpunkte:
- Zu jedem Thema gibt es sehr viele Übungen. Sehr viele. In meiner Ausbildung habe ich (zugegeben als sehr interessierter und begabter Schüler) selbst nur die "Spielstücke" gespielt und trotzdem die Inhalte mitbekommen. Wer sich also wundert, dass der Fortschritt zu langsam vorangeht, darf ein paar der Vorübungen gerne überspringen - sie klingen auch nicht so interessant wie die Spielstücke.
- Einige Begrifflichkeiten sind irreführend: Die Dur-Pentatonik wird als "Dur6-Skala", und die Mollpentatonik (1,b3,11,5,b7) als "Bluesskala" bezeichnet. Diese Namen sind nicht gebräuchlich und verwirren jemanden, der dieses Wissen nicht selbst mitbringt. Die Erklärung, dass sich die Pentatonik aus 5 Quinten (penta=5) übereinander zusammensetzt ist wesentlich logischer und leichter zu merken, als wie im "Rock Piano" die Pentatoniken aus Reduzierung der normalen Dur-Skala zu bilden.
Ferner wird der 7sus4-Akkord immer als 11 aufgeführt ("C11"): Dies ist nicht zu unlogisch, ist aber auch nicht gebräuchlich und daher zum Beispiel beim Lernen von Jazz-Standards oder anderer Stücke nach Akkordsymbolen hinderlich und irreführend.
- Den Abschnitt über das "ideale Instrument für dich" kann man vergessen - heutzutage ist die Welt der Stage/Digital-Pianos so weit fortgeschritten, dass der beste Rat für unsichere Kaufwillige ist, einen Keyboarder oder einen Verkäufer im Laden um Rat zu fragen, und das passende Instrument auf diese Art und Weise zu finden. Es werden zum Beispiel auch keine Orgelklone als realistische Alternative zu einer Hammondorgel genannt.
- Beim ersten Durchsehen dieser (zweiten) Auflage fielen mir einige Fehler auf, so wurde zum Beispiel ein bekannter Organist als "Brain Auger" aufgeführt, außerdem fiel mir ein falsches Akkordsymbol im Stück "Changes" auf. Größtenteils ist das Buch fehlerfrei, aber so kleine Patzer hätten nicht sein gemusst und stören ein sonst sehr positives Bild.
Es ist möglich, dass ich nur für mich spreche, aber mein "Ansatz" basierte jahrelang auf einer Patternkombination von linker und rechter Hand, ich habe aber lange keine große Flexibilität und Unabhängigkeit beider Hände gehabt. Die Stücke im "Rock Piano" arbeiten größtenteils mit dem System, dass die linke Hand ein Pattern der rechten ergänzt bzw. eine Basslinie unterlegt. Ich empfehle ungefähr nach Erreichen des dritten großen Kapitels auch Übungen zuzuziehen, die die linke Hand als Melodieträger emanzipieren, bzw. auch Mehrstimmigkeit in linker Hand und Flexibilität dieser an anderer Literatur zu üben.
Fazit:
Eine etwas sorgfältigere Durchsicht der neuen Auflage hätte dem "Rock Piano" nicht geschadet. Einige Stellen insbesondere im musiktheoretischen Teil sind mit Vorsicht zu genießen. Insgesamt aber ist das Buch eine sehr gute Schule und eine tolle Materialsammlung zum Heranführen von Schülern an Rock/Pop-Piano. Autodidakten, die mithilfe dieses Buches lernen, empfehle ich hin und wieder auch Unterricht zu nehmen, und besonderen Fokus auf linke Hand und Spieltechnik (Körper- und Handhaltung, Sitzhöhe, etc.) zu legen, da das Buch in dieser Hinsicht wenig Aufschluss gibt. Ansonsten werde ich es sowohl als "Hauptlehrwerk" als auch als gute und umfangreiche Sammlung von ergänzenden Stücken und Übungen (z.B. für meine Jazz-Schüler) weiterhin gerne empfehlen und verwenden.