Ich war lange Jahre Hifi-Fan und habe viel Zeit mit audiophilen Hörsessions und dem Eigenbau von Lautsprecherboxen zugebracht. Nun mit über 50 Jahren habe ich mich doch noch zum Erlernen einer Western- und einer E-Gitarre entschieden. Das ist jetzt wenige Jahre her. Nun musste ein Combo her.
Einsatzzweck:
Das Gerät sollte vor allem meine Fender Strat E-Gitarre verstärken, sollte aber auch einen guten Westerngitarren-Sound bringen. Dabei kam es mir nicht auf einen 100% natürlichen Sound meiner Western an, aber er sollte mir gefallen und nicht nach cleaner E-Gitarre klingen. Es geht hier also nicht um eine Akustikgitarren-Simulation, sondern um den dafür vorgesehenen Anschluss einer Akustikgitarre mit einer Verstärkung, der dem Instrument seinen natürlichen Charakter lässt! Die hier vorgestellten Combos sind dafür ausgelegt! Außerdem ist der momentane Einsatzort mein Wohnzimmer - der Combo soll also auch leise gut klingen. Ich bin von der Musik her eher vielseitig mit dem Schwerpunkt auf weniger Zerre, also eher der zahme Blues-Bereich und auch mal sphärische Klänge. Aber manchmal packt es mich und dann darf es auch mal fetzen ... :-)
Vorauswahl:
Beide Geräte konnten mich von ihren Möglichkeiten und auch durch YouTube-Hörtests mit sehr gutem Kopfhörer überzeugen.
Der Line 6 hatte gegenüber dem Boss noch die Loop-Funktion, ein Schlagzeug-Mode zur Begleitung, massenhaft Speichermöglichkeiten für eigene Sounds und eine unglaubliche Anzahl von Editiermöglichkeiten schon am Gerät bedienbar, aber dann auch noch tiefer über die kostenlose Software, die ich mit meinem iPad bedienen kann - für mich ideal. Das muss man aber mögen! Ich kann das Gerät auch als Interphase für einen iPad benutzen, also zum Anschluss einer Gitarre an einen PC oder Tablett (USB-Anschluss). Einfach direkt anschließen - wird z.B. von der App „Garageband“ auf meinem iPad erkannt. So verbunden kann man dann auch bereits aufgenommene Spuren über den Combo abspielen - und gleichzeitig dazu selber spielen. Rein zum Abspielen kann ich über Line in an beiden Combos Geräte anschließen.
Der Boss hat diese Möglichkeit speziell zum iPad leider nicht und nur 4 Speichermöglichkeiten für Soundeinstellungen. Dafür ist er einfacher zu bedienen, schon legendär für sein Preis-Leistungsverhältnis und vom Lautsprechergehäuse ein offenes System. Das macht einen Klangunterschied aus, denn der Schall breitet sich auch nach hinten aus und wird dann von den Raumwänden reflektiert (ist aber auch etwas aufstellungskritischer). Der eingebaute Lautsprecher hat auch nicht mit Gehäuseresonanzen zu kämpfen und „atmet“ hier freier - erfährt allerdings auch nicht die Resonanzunterstützung im Bassbereich und muss gerade hier durch gute Treiberauslegung gegen Auslöschungen ankämpfen. Oha, hier muss ich aufpassen, nicht zu tief in die Technik einzusteigen. Also weiter zur
Praxis:
Boss Kantana 50 MkII:
Ich war sofort mal schwer beeindruckt, wie eindrucksvoll der 12-Zöller meine Westerngitarre (eine Martin mit gutem Piezo- und Mikrofon-Tonabnehmern) in Szene setzte. Ich erwarte hier keine Hi-End-Wiedergabe, aber ich habe auch schon einen Fender-Akkustikgitarrenkombo ACOUSTIC 100 für 350,- gehört und den hier wirklich nicht mehr vermisst. Ich habe definitiv keine Höhen vermisst, auch wenn ich weiß, was ein hochwertiger Hochtöner leisten kann ... Außerdem bin ich beim Boss in den Effekten, von denen 5 gleichzeitig per Regler nutzbar sind, wesentlich flexibler. Und Boss konnte sich auch den Vorteil des offenen Gehäuses voll zunutze machen: Der Sound löste sich schön vom Combo und fing fast an, im Raum zu schweben. Die Bässe kamen frei und locker - anders als bei geschlossenen Gehäusen, die nicht ganz so luftig und frei, sondern „enger“ klingen. Dieses Abstrahlverhalten lässt sich durch noch so viele Geräte-Einstellungen nicht herbei zaubern - ein großes Plus vom Boss Kantana. Davon profitierte auch meine E-Gitarre, die schon in der Grundeinstellung auf „clean“ mit hoch geregeltem Booster-Effekt und kräftigem Gain plus Delay und Reverb genau so klang, wie ich es mir gewünscht hatte: warm, angechruncht und plastisch dynamisch löste sich der Klang vom Combo. Wenn es von der Zerre her heftiger zur Sache ging, schien dieser offene Gehäusetyp nicht mehr so souverän die Kontrolle zu behalten. Der Line 6 knurrte da irgendwie mit mehr Kontrolle bzw. Kontur.
Line6 V 60 MkII:
Wenn der Vergleich zum Boss nicht gewesen wäre, wäre ich wohl einfach nur hoch zufrieden gewesen - und viele Produktbewertungen kommen genau so zustande, ohne Vergleich ... Doch für meinen Einsatzzweck sagte mir das Lautsprecherkonzept des Boss Kantana etwas mehr zu. Über den Kopfhörerausgang verlor der Boss seinen akustischen Vorteil - also lag es nicht an der Elektronik und den Simulationen. Die Westerngitarre schien vom sehr guten 12-Zöller des Kantana homogener wiedergegeben zu werden und war so irgendwie charakterstärker. Der Line 6 klang da etwas sachlicher, mehr nach einem zustzlichen Hochtonhorn, was etwas technisch die Höhen drauf packte. Aber Vorsicht!: Diese Unterschiede sind keine Welten, aber für geübte Ohren hörbar. Doch ich lernte mehr und mehr die Einstellung am Line 6 kennen und damit auch die vielfachen Möglichkeiten. Drehe ich am Regler für Reverb, erscheint der Pegel-Balken in der Anzeige und auch der angewählte Reverb-Typ. Mit dem darunter befindlichen Umschalt-Regler kann ich den dann auch leicht ändern und einem neuen Reverb-Typ anwhlen. So wurde z.B. der Raum weiter und der Sound schien sich auch gleich besser vom Gehäuse zu lösen. Dem akustischen Nachteil gegenüber dem Boss kann also ein Stück weit entgegen gewirkt werden. Als ich mich dann so durch die vielen Presets durchtestete, war ich immer wieder von den teilweise unter die Haut gehenden Sounds beeindruckt - eine Vielfalt, die der Boss so gar nicht bieten kann. Die Anschlussmöglichkeit für mein iPad ist für mich ideal und auch wichtig, denn ich möchte gerne Mehrspur-Aufnahmen mit meinem flexiblen, gewohnten und laufstabilen Tablet machen. Der Looper hat mich nicht so beeindruckt, denn ohne Fußschalter ist es schwer, im Takt zu starten und zu stoppen - im Zusammenspiel mit dem eingebauten Schlagzeug gar unmöglich, denn beides läuft nicht synchron und wer kann schon im Millisekundenereich exakt auslösen ... Auch hier tue ich mich wesentlich leichter mit der Garageband von Apple, ein Programm, dass sehr gerne unterschätzt wird - wohl weil es nicht von einer Musiker-Marke kommt.
Fazit:
Beide Geräte sind wirklich spitze - jedes mit seinen besonderen Stärken. Es gibt objektive Beurteilungskriterien wie z.B. das Dynamikverhalten, die Klangkontur, scharfe Höhen oder die Losgelöstheit des Klangbildes. Aber es werden teilweise Geräte abqualifiziert, weil sie dem eigenen Geschmack nicht entsprechen oder der günstige Preis nicht gewürdigt wird.
Beide Geräte sind sehr vielseitig und ermöglichen das Spielen im Wohnzimmer mit gutem Klang. Und ich behaupte: Diese Modeling-Amps klingen wirklich gut! Alles Weitere sind Feinheiten, die mancher haben will - ok - aber viele nicht mal erkennen würden. Ja, beide Combos sind ihr Geld wert und sehr empfehlenswert!
Der Boss ist was für alle, die ein super Gerät mit nicht so komplizierter Bedienung in mehreren Ebenen möchten. Wenn es aber in die Feineinstellungen über die kostenlose Software geht, tut sich hier nicht jeder mehr so leicht ... Aber was auf dem Gerät schon drauf ist, hat mich schwer beeindruckt. Die Akustikgitarre klingt wirklich klasse - so gut, dass viele keine Gelüste mehr nach einem reinen Akustik-Combo haben werden. E-Gitarre klingt besonders im Blues-Bereich ganz fein, aber auch die Zerrsounds Sind nicht zu erachten. Und über allem hat man hier einen sehr luftigen, dynamischen und losgelöst räumlichen Sound, der sehr schön atmet und mit Geräte-Einstellerei nicht ganz zu erreichen ist.
Den Line 6 empfehle ich allen, die mehr Möglichkeiten wollen. Er kann bluesig und organisch warm und haut das Gain-Brett kontrolliert und mit Kontur raus. Wenn man über ihn spielt, vermisst man den Sound des Boss Kantana kaum noch. Und er liefert mit seinen vielen Amp-Moddels und weiteren Effekten Klangwelten bis zum Abwinken. Ein iPad User wird seine Möglichkeiten sehr zu schätzen wissen, denn mit der „Garageband“ hat er ein schlankes und sehr effektives Tonstudio, dass sich für Hobbi-Musiker nicht zu verstecken braucht. Aber die Möglichkeiten beschränken sich längst nicht mehr auf Appel-Geräte ...
Der Line 6 mit dem Lautsprecheraufbau des Boss wäre es für mich gewesen, aber man kann halt nicht alles haben. Ich habe mich für den Line 6 entschieden und sende den Boss Kantana schweren Herzens zurück. Sehr empfehlen kann ich beide! Und an alle Fan-Gemeinden: Begrabt das Kriegsbeil! Moddeling hat seine Vorzüge und damit eine klare Daseinsberechtigung, ohne das z.B. nicht die Verstärkung von Akustik- und E-Gitarre durch ein Gerät möglich wäre oder das unkomplizierte leise Spielen zu Hause. Und würdigt auch die Produkte anderer Marken. Sie haben ja nach Anwendungsfall ihre speziellen Vorzüge und vieles ist reine Geschmacksache.