Hallo,
ich habe mich auf der Suche nach einer gĂŒnstigen, aber qualitativen E-Geige fĂŒr die Harley Benton 870 BK entschieden und bin insgesamt sehr zufrieden damit.
Warum bewerte ich das Produkt?
Ich habe selbst fast alle Bewertungen hier vor dem Kauf gelesen und dadurch eine bestimmte, eher negative, Erwartungshaltung entwickelt. Ich möchte dem Gesamtbild noch ein paar eigene, ĂŒberraschend positive, EindrĂŒcke hinzufĂŒgen.
Was sind meine musikalischen Erfahrungen?
Ich hatte fĂŒnf Jahre Geigenunterricht und spiele seitdem nicht mehr so oft. Ich halte aber regelmĂ€Ăig meine Finger beweglich. Bisher habe ich ausschlieĂlich auf der akustischen Violine meiner UrgroĂmutter gegeigt. Meine Bewertung sollte also eher fĂŒr AnfĂ€nger des elektrischen Violinespielens interessant sein.
Warum wollte ich diese E-Geige haben?
Ich habe mir Cubase Elements zugelegt, weil ich selbst Musik machen will. Da die Violine das Instrument ist, was ich am besten beherrsche, habe ich mir gewĂŒnscht, das Instrument direkt an den PC anzustöpseln und aufnehmen zu können.
FĂŒr diese Idee wollte ich kein zu groĂes Budget investieren. Im einzigen MusikgeschĂ€ft in der Umgebung sagte man mir, dass sie dort mal eine E-Geige im Sortiment gehabt hĂ€tten, aber das war wohl so ein billiges Teil fĂŒr 800€, die wĂ€ren sie nicht losgeworden. Allgemein lohne es sich nicht, so etwas im Angebot zu haben, da es kaum Abnehmer gebe. Und wenn doch, wĂ€re die Technik bereits wieder veraltet. Da ist mir kurz das Herz stehen geblieben. Also doch ins Internet.
Was sind meine Erfahrungen?
Ich mache jetzt kein komplettes Unboxing, die gibt es hier genĂŒgend. Ich ergĂ€nze nur, was ich gelesen habe:
a) Komponenten, Verarbeitung
Ich hatte aufgrund der ganzen Horrormeldungen in den Bewertungen die Erwartung, dass die Geige selbst und der Abnehmer ganz gut seien, man den Rest aber komplett wegwerfen könne. Deshalb habe ich gleich ersatzweise einen Satz Saiten, einen Steg, Feinstimmer und Wirbel dazubestellt.
Gleich vorweg: Ich habe nichts davon benötigt!
- Der Lack ist das Einzige, an dem ich etwas auszusetzen habe. Die zur linken Schulter gewandte Seite sieht aus, als wĂ€re der schwarze Hochglanzlack groĂflĂ€chig mit einer Chemikalie abgewischt und dadurch stumpf geworden. Aber das ist fĂŒr mich kein RĂŒckgabekriterium, ich will im Keller Musik machen. :) Allgemein ist die Verarbeitung sehr solide und robust, aber eben nicht wunderschön. Es gibt einige raue Stellen (z.B. unter dem Griffbrett) oder mikroskopische Kratzer im Lack. Als Background-Violinist_in in einer Metalband braucht man auf jeden Fall keine Angst um sein Instrument zu haben. :)
- Die Wirbel sind NICHT beim Stimmen gebrochen. Drei von den Vieren sitzen zwar nur bis zur HĂ€lfte im gegenĂŒberliegenden Loch des Wirbelkastens, sie lassen sich aber gut bewegen und man kann ihnen NICHT beim Sich-Verstimmen zusehen. Die Wirbel haben eher eine raue OberflĂ€che, möglicherweise halten sie deshalb so gut. Ich habe die Geige vor ca. 11 Stunden gestimmt und alles hört sich sauber an. Man muss beim Stimmen eines Instrumentes halt sehr feinfĂŒhlig vorgehen.
- Die Saiten sind ebenfalls NICHT gerissen. Die G-Saite hat zwar einen winzigen Kratzer, aber das ist nur optisch. Man spĂŒrt keine Vertiefung, wenn man mit dem Finger darĂŒber fĂ€hrt. Die farbige Umwickelung im vorderen Bereich fusselt leicht. Die Saiten wirken keinesfalls teuer und ich habe ja auch bereits Bessere vorrĂ€tig. Aber da sie schon vorgestimmt waren, hab ich sie erstmal ausprobiert und gemerkt, dass sie ziemlich gut funktionieren. Wie gesagt, auch hier entstehen keine spontanen Verstimmungen.
- Die Feinstimmer sind in den Saitenhalter integriert, ich glaube nicht, dass man die einfach tauschen kann. Sie tun aber ihren Dienst, nichts zu meckern.
- Der Saitenhalter scheint aus Metall zu sein. Die Befestigung wirkt beeindruckend stabil.
- Der Steg ist NICHT durchgebrochen. Er ist um einiges krĂ€ftiger als der meiner akustischen Geige. Er ĂŒbertrĂ€gt ja auch die Schwingung auf den vielgelobten Abnehmer. Und das noch ca. 10 Sekunden, nachdem man den Bogen von der Saite genommen hat. Ich wĂŒrde ihn nicht austauschen.
- Das Griffbrett sitzt bombenfest.
- Die KinnstĂŒtze lĂ€sst sich tatsĂ€chlich mit leichtem Kraftaufwand verschieben. Die muss noch nachjustiert werden.
- Der Bogen, welcher hauptsĂ€chlich aus Kunststoff besteht, ist NICHT durchgebrochen. Alle Komponenten wirken erstmal wertig. Der Frosch ist aus Holz, es gibt schöne, perlmutartige Einfassungen, die einen qualitativen Eindruck hinterlassen. Daumenleder und Kopfplatte wirken aber eher billig. Die Vorrichtung zum Spannen (Beinchen) lĂ€sst sich prĂ€zise bewegen. Die Rosshaare reiĂen nicht. Ich habe erstmal meinen eigenen Bogen benutzt und konnte gleich loslegen. Aber dann war ich doch neugierig und habe das Teil mit meinem eigenen Kolophonium eingerieben. Dabei muss man beachten, dass es wirklich lange braucht, bis der Bogen einsatzfĂ€hig ist. Das ist aber, wie ich glaube, mit jedem Bogen so. Man benötigt Einiges an Geduld, bis man genĂŒgend Reibung erzeugen kann. Ich habe mir bestimmt 7 Minuten Zeit gelassen. Dann muss man ihn etwas einspielen, die Saiten sind ja auch noch jungfrĂ€ulich. Mittlerweile kann ich aber echt mit dem Bogen arbeiten. Zwar meine ich, Richtungswechsel noch etwas deutlich zu hören, aber das wird weniger. Ist ja klar, dass ein seit vielen Jahren benutzter Bogen erstmal angenehmer klingt. Auf meiner akustischen Geige lĂ€sst sich der Bogen ĂŒbrigens auch verwenden. Relativ logisch, aber nicht vorauszusetzen, wie ich finde.
- Das beigelegte Kolophonium habe ich erst spÀter verwendet, als ich den Bogen bereits mit meinem alten vorbereitet hatte. Es funktionierte tadellos.
- Die Kopfhörer funktionieren und haben einen separaten LautstÀrkeregler. Aber ich hab nach einem kurzen Test gleich meine JBL Synchros S300 angeschlossen (nicht enthaltener Adapter auf 3,5mm Klinke notwendig!) und hey, DAS ist mal ein Klang! :)
- Der Geigenkasten riecht tatsĂ€chlich sehr chemisch, wenn man die Nase direkt reinhĂ€lt. Er ist super leicht, ich denke nicht, dass da Holz verbaut ist. Eher ummantelter Schaumstoff. Das Gesamtergebnis wirkt robust und schĂŒtzt den Inhalt wie er soll. Alles ist gut verarbeitet, der Innenraum ist schön flauschig. Die Geige sitzt, ohne zu wackeln. Nur der Anschluss fĂŒr das Kabel in der Geige ist herausstehend verbaut und hat sich in den Boden des Kastens gedrĂŒckt. Und die Halterung fĂŒr den Bogen ist mit Klettverschluss gelöst und sitzt mir persönlich zu locker. Der Kasten hat auch Riemen, so dass man ihn wie einen Rucksack tragen kann.
- Die Technik/Elektronik ist vielfach beschrieben worden. Aber ein Mysterium ist noch zu klĂ€ren: Der AuxIn Anschluss! Ich hatte gelesen, dass das Teil bei Einigen nicht funktioniert. Bei mir war das scheinbar genauso. Kopfhörer rein, nichts zu hören. Also habe ich direkt bei Thomann angerufen und mal nachgefragt. Ein etwas belustigter, ĂŒberaus freundlicher und kompetenter Mann erklĂ€rte mir dann Folgendes:
Ich war einem Denkfehler erlegen und davon ausgegangen, dass ich meine Kopfhörer in den kleinen Anschluss stecke und auf Kopfhörer stellen muss. Weiter dachte ich, wenn ich die Geige an eine Anlage anchlieĂen möchte, schlieĂe ich das Kabel an den 6,5mm Anschluss an und stelle auf Amp. Das war falsch. Da steht ja auch deutlich AuxIn. :)
Egal ob Kopfhörer oder Anlage, alles wird in den 6,5mm Ausgang gestöpselt. Was es ist, kann man mit dem kleinen Hebel einstellen (Amp ist leiser). Aber wozu dient dann der AuxIn-Anschluss?
Der ist dazu da, dass man beispielsweise ein Konzert von einem CD-Spieler o.Ă. ĂŒber ein Klinkenkabel in die Geige einspeisen kann. Ăber Kopfhörer oder Anlage vernimmt man dann das Orchester PLUS seine eigene Geigendarbietung. Na, fetzt das?
An den Reglern fĂŒr Bass und Treble kann man den Klang variieren. Das macht SpaĂ, weil man so etwas an der gewohnten akustischen Violine eben nicht kann. An meiner 2.1 Bose Companion Anlage musste ich den Bass beim Testen aber ganz runterdrehen, sonst hörte man ein Dröhnen. Das ist aber sicher eine Einstellungssache, da sammle ich noch Erfahrung.
b) Praktische Erfahrungen
Nach ca. einer Stunde neugierigen Herumprobierens hatte ich die Geige gestimmt, an alle Arten von Kopfhörern und Boxen angeschlossen und war vom Klang, offen gesagt, sehr angetan. Er ist anders als bei einer klassischen Violine, aber viel angenehmer, als ich es mir vorgestellt hÀtte. Schnelle und langsame TonlÀufe, Vibrato, (laienhaftes) Lagenspiel, alles nice. Ich freue mich sehr darauf, damit zu arbeiten.
In Cubase hatte ich innerhalb von einer halben Stunde alle Anschlussvarianten und Einstellungen so weit, dass ich mir mit einem Mal Einspielen selbst beim Kanonspielen zuhören konnte. Mit vier Stimmen klingt das sogar richtig satt und der Nachklang der Saiten ist auch Ă€sthetisch. Keine StörgerĂ€usche, kein Dröhnen, kein Rauschen, kein Ăbersteuern. Und bisher nutze ich (gezwungenermaĂen) noch eine externe Soundkarte fĂŒr 25€ mit dem ASIO4All-Treiber. :)
Nachtrag, 24 Stunden spÀter:
Ich habe meine Eltern besucht. Nach 4 Stunden Fahrt im heiĂen Auto, war die Geige kaum verstimmt. Wir haben sie per Cinch-Kabel an die Sony-Anlage meiner Eltern angeschlossen. Welch ein Raumklang! LautstĂ€rke, TonqualitĂ€t, alles zu unserer vollsten Zufriedenheit. Ich traue uns zu, dass wir gemerkt hĂ€tten, wenn etwas faul gewesen wĂ€re. Mein Vater hat sich an sein Yamaha Clavinova gesetzt und dann haben wir Kammermusik gemacht. Abgesehen von den eigenen, etwas eingerosteten FĂ€higkeiten, blieben keine WĂŒnsche offen. Ich hatte sogar meinen eigenen Bogen und mein altes Kolophonium vergessen und musste komplett auf das Harley Benton Set zurĂŒckgreifen. Und sieheda: Alles funktionierte perfekt, wie es sein sollte.
Der Geigenkasten stinkt immer noch.
Fazit:
Man bekommt hier ein komplettes, direkt einsatzfĂ€higes Violinenset. ErgĂ€nzt um ein paar Kabel und gute Kopfhörer, bzw. Boxen, hat man die Möglichkeit, tolle Musik zu machen, wobei der SpaĂfaktor enorm hoch ist und nicht durch technische MĂ€ngel negativ beeintrĂ€chtigt wird.
Wer Lust hat, eine E-Violine auszuprobieren, oder mithilfe eines Aufnahmeprogramms seine Songs verewigen möchte: ich spreche eine klare Kaufempfehlung aus! Die Harley Benton 870 BK ist jeden Euro wert.
Professionelle Geiger_innen schlagen wahrscheinlich die HĂ€nde ĂŒber dem Kopf zusammen. Aber fĂŒr die gibt es ja das billige Modell fĂŒr 800€. :)
Ich wĂŒrde erstmal die Geige, so wie sie ist, bestellen. Wenn was kaputt geht, kann man ja immer noch reklamieren. Vielleicht habe ich auch ein besonders gutes Exemplar erwischt, aber ich glaube nicht, dass die QualitĂ€tsunterschiede so gravierend sind. Wenn man schön vorsichtig mit der Violine umgeht, sollte eigentlich nichts passieren. Man darf auch nicht vergessen, dass die TonqualitĂ€t bei einer E-Geige auch viel damit zu tun hat, wo man die Töne einspeist.
Wer sich fĂŒr den Kauf entscheidet: viel SpaĂ beim Spielen!