Das Legend 70s Artist W EX tut seit einigen Tagen seinen Dienst bei mir. Insgesamt habe ich den Kauf nicht bereut. Schauen wir einmal in die Einzeldisziplinen!
Look und Verarbeitung: Volle Punktzahl! Das Keyboard kommt in einem stilsicheren Gehäuse, das klassischen Vintage-Look mit einer gewissen Eigenständigkeit verbindet – und noch dazu zweckmäßig ist: Auf der großen Ablagefläche an der Oberseite lässt sich ein kleiner Monitormixer unterbringen oder auch ein anderes Peripheriegerät, ggf. sogar ein kleines leichtes Zweitkeyboard. Sehr gut gelöst! Verarbeitung macht einen guten Eindruck; nichts wackelt, nichts klappert. Sauber.
Klaviatur: Vernünftiger Kompromiss zwischen akustischem Klavier und Fender Rhodes. Schnelle Repetition möglich. Ein echtes altes Wurlitzer spielt sich etwas smoother und im positiven Sinne ausgeleierter, hier fühlt sich das eher nach einem Fender Rhodes der ersten Baureihe an. Geht aber okay, amtlich.
Usability: Perfekt. Kaum ein Schalter/Taster ist doppelt belegt, hier muss man nicht kilometertief in Parametergräben herabsteigen. Man kommt ohne Anleitung sehr weit und kann das Gerät sofort intuitiv bedienen. Die Logik der separaten Klangmodule, die sich eine Master/Effektsektion teilen, ist sehr stringent durchgeführt. Auch der Live-Einsatz sollte zum Vergnügen geraten (alle wichtigen Dinge beleuchtet). Die Anleitung ist ausführlich und hilfreich. So muss das sein.
Klang:
Hier gab es für mich einige Überraschungen. Positive wie negative. Zunächst einmal das Sahnestück: Das E-Piano-Modul. Das macht richtig Bock. Die Fender-Rhodes-Variationen sind sehr gelungen, man könnte höchstens kritteln, dass das letzte Quäntchen „MÄÄP“ fehlt, wenn man richtig in die Tasten haut. Dafür gefällt mir sehr, wie die Töne ausklingen, wie die kleinen unreinen Schwebungen reproduziert werden, das ist wirklich sehr lebendig. Auch die Wurlitzer machen Spaß und gefallen mir deutlich besser als die etwas blassen Wurlys, die man bei Clavia im Nord Piano bekommt. Tiptop. Erfreulich ist auch, dass aus den AUX-Ausgängen ein sehr sauberes Signal kommt (Absenz von Rauschen, Brummen, anderen Nebengeräuschen).
Höchst positiv überrascht bin ich von dem Sound Collection Modul. Da steckt wirklich alles drin, was der Keyboarder „aufm Gig“ braucht. Sehr gute Streichersets, fantastische Bässe (akustisch wie elektronisch), einige erstaunlich brauchbare Blasinstrumente und sogar Gitarresounds, aber auch mehrere sehr gelungene und authentische Kirchen-/Pfeifenorgeln. Die Hammondorgeln reichen in Vielschichtigkeit und Qualität nicht an die Benchmark (Hammond SK1) heran, dafür wiederum ist der Rotary-Speaker-Effekt sehr authentisch, was die Sache wieder rausreißt. Dann wären da noch viele brauchbare Pad-Sounds und Synthi-Geschichten. Das ist qualitativ um Klassen besser als ich erwartet hätte. 10 von 10 Punkten.
Gleiches gilt für das Clavinet-Modul. Das ist fast schon overengineered. Mehr kann ich darüber nicht gut schreiben, weil mich das Clavinet nicht so mega interessiert. 10 von 10 Punkten.
Jetzt noch zur kleinen Enttäuschung: Das Akustik-Piano-Modul fällt deutlich ab gegen die anderen Module. Was hier geboten wird, ist meiner Meinung nach gerade auch angesichts des Preises nicht zeitgemäß. Mögen die Sounds sich im Band- und Rock’n’Roll-Kontext gut durchsetzen: Für klassisches Solo-Piano eignen sie sich nicht. Fast jeder Sound hat irgendwo einen Frequenzbereich, in dem es etwas näselt, cheesy klingt oder nicht optimal auflöst. Da sind die Akustikpianoklänge meines 10 Jahre alten Clavia Nord Piano I 88 DEUTLICH besser, ja selbst Sample-Banken, die man in der 1.500-Euro-Digitalpiano-Klasse bei anderen Herstellern bekommt. Ich hoffe allerdings mit großer Zuversicht auf ein Software-Update. Vielleicht liefert der Hersteller hier noch nach. Und: Man wird ja nicht gezwungen, das Akustikmodul einbauen zu lassen. Lässt man es halt weg und stellt einen separaten Expander drauf.
Die Effekte in der Mastersektion sind von wechselhafter Qualität: Alles, was man so braucht, um die Vintage-Pianos zu malträtieren, ist sehr gelungen – also z.B. Tremolo, Vibrato, Phaser, Wahwah. Die klassischen Hallvarianten habe ich schon etwas weniger "nass" gehört. Man kann hier allerdings durch Feintuning noch einiges rausholen.
Fazit: Ein Instrument, das überwiegend Vergnügen bietet und sehr vielseitig ist. Wer auf hochauthentische Akustikpianosounds verzichten kann, der ist mit dem Viscount sehr gut bedient und dürfte lange dran Freude haben. Wenn es hingegen um Konzertflügel & Co geht, haben zurzeit die Schweden (noch) die Nase vorn.